Leons Identität
Spiele gegen Rechts
Gerade in letzter Zeit sieht man sie immer häufiger, die Menschen mit Reichskriegsflaggen auf Demos. Andere tragen rechte verfassungsfeindliche Symbole offen zur Schau, grölen faschistische Parolen oder hetzen unverhohlen gegen Ausländer und Asylsuchende. Über 22.000 Delikte mit rechtsextremen Hintergrund zählte die Polizeistatistik im letzten Jahr. „Die größte Bedrohung ist nach wie vor die Bedrohung von rechts“ – so Bundesinnenminister Seehofer im Mai 2020 bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2019. Aber wie kann es dazu kommen? Was ist bei diesen Leuten schief gelaufen, wo sind die falsch abgebogen? Die wurden ja nicht als Neonazis geboren, waren sicher auch mal Kinder mit Klavierunterricht oder Topfschlagen bei Geburtstagen, freuten sich über das erste Fahrrad und den Sommerurlaub mit den Eltern an der Nordsee. Wie sind die so radikal geworden?
Zwei Videogames haben versucht, das Thema „Radikalisierung“ spielerisch zu verarbeiten: „Leons Identität“ und „Jessika“ – und dabei grundverschiedene Ansätze gewählt. Aber kann das überhaupt funktionieren? Ist dieses Thema überhaupt für eine spielerische Auseinandersetzung geeignet? Und können die beiden Games auch technisch überzeugen, oder werden sie von ihrem pädagogisch-seriösen Ansatz erschlagen? Beginnen wir heute mal mit Leons Identität, Jessika kommt dann in einem der nächsten Podcasts unter die Lupe.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Ich bin dann mal weg
Leon ist verschwunden. Von einem Tag auf den anderen war der 18jährige weg, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Die besorgten Eltern haben die Polizei alarmiert. Sein 15jähriger Bruder Jonas lauscht durch die Tür und fasst einen Entschluss: Er will Hinweise finden, wo Leon abgeblieben ist. Und das kann er am besten, indem er Leons Zimmer durchsucht – übrigens der einzige Schauplatz im Spiel.
Recht schnell wird klar, dass Leon in die rechte Szene abgedriftet ist. Da bedarf es keines besonderen Scharfsinns, die Hinweise sind wirklich extrem plakativ. Da gibt es eindeutige Literatur auf dem Couchtisch wie „Der große Austausch“ oder „Defend Europe“. Dazu Musik von rechten Bands auf Leons PC, eindeutige Plakate, eine neue Vorliebe für den Kampfsport und einen Hinweis auf ein rechtes Sommercamp.
Da wurde dann wirklich dick aufgefahren. Das wirkt stellenweise schon wie das Abarbeiten einer Liste. Und die ständigen Kommentare des kleinen Bruders sind inhaltlich zwar richtig, haben aber auf die Dauer zu viel erhobenen Zeigefinger. „Ja, is klar, weiß ich alles“, möchte man Jonas da ab und zu zurufen.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Point & Click mit Erfahrung
Leons Identität ist ein klassisches Point & Click-Adventure. Mit der Maus fahren wir über die Einrichtung, über Möbel, Plakate, Computer oder Klamottenstapel auf dem Sofa. Wir können Schubladen öffnen, Geräte einschalten, bei Interesse heranzoomen und uns im Zimmer frei bewegen. Versuchen wir aber, es zu verlassen, geraten wir an eine unsichtbare Barriere; bis hierhin und nicht weiter, sagt uns das Spiel dann. Und schickt uns mit einem Tipp zurück in Leons Jugendzimmer.
Ziel des Spieles ist es, am Ende mit Leon Kontakt aufzunehmen und zu versuchen, ihn vom eingeschlagenen Weg abzubringen. Die Rätsel dabei sind zwar nicht sonderlich komplex, dafür aber immer logisch und ganz unterhaltsam, die Laufwege sind aufgrund der kleinen Location angenehm kurz. Da merkt man, dass die Entwickler der bildundtonfabrik Erfahrung haben – von denen stammen unter anderem auch die Böhmermann-Games oder die TV Serie „How to sell Drugs online Fast“.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Rückblicke und Erklärungen
Was recht gut gelingt, ist der Versuch, Leons Vergangenheit zu beschreiben. In Rückblicken sehen wir ihn mit den Eltern im Urlaub oder bei Bandproben, wir erfahren auch, dass er Videogames liebte, die Gamescom besuchte, ein guter Schüler war, sonst aber ziemlich faul. Ein typischer Jugendlicher eben.
Etwas dünn finde ich dagegen den privaten Grund, den uns das Spiel als augenscheinlichen Auslöser für Leons Sinneswandel präsentiert und den wir durch SMS und Sprachnachrichten erfahren: Leons Kumpel Elyas – anscheinend mit ausländischen Wurzeln – hat ihm die Freundin ausgespannt, er fühlt sich verraten.
So sucht Ihr versteckte Passwörter, nutzt den 3D-Drucker, findet einen USB-Stick und am Ende auch Leons neue Handynummer, um ihn anzurufen und um in einem längeren Multiple-Choice-Dialog Überzeugungsarbeit zu leisten. Die Standpunkte, die dabei ausgetauscht werden, sind zwar hinlänglich bekannt und zuweilen ist das auch etwas too much Phrasendrescherei, aber verkehrt ist das alles nicht. Von Leon kommen Sachen wie „Wir verteidigen Deutschland“ und „Du Gutmensch kapierst das eh nicht“, während Jonas zu Recht argumentiert, dass die Grenzen aufweichen, bis am Ende Flüchtlingsheime brennen – und seinen Bruder beschwört „Fall nicht auf so eine Scheiße rein!“.
Je nachdem, wie geschickt man sich anstellt, kann man Leon wohl am Ende dazu bewegen, wieder nach Hause zu kommen, oder man scheitert. Wobei leider nie klar wird, warum es schief gelaufen ist, da wäre ein Hinweis hilfreich.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Zweite Runde und der Innenminister
Wer mag, kann es dann halt noch einmal probieren. Was nicht weiter weh tut, für den ersten Durchlauf habe ich knapp eine Stunde gebraucht, inklusive aller Rätsel. Wer jetzt sagt „Was, eine Stunde – für so was gebe ich doch kein Geld aus!“, dem sei erwidert: Musst Du auch nicht, das Spiel gibt’s kostenlos auf Steam oder auf der Webseite „leon.nrw.de“
Warum NRW? Weil das Spiel vom nordrhein-westfälischen Innenministerium in Auftrag gegeben worden war. Die Absicht dahinter: Man will damit Kinder und Jugendliche ab dem zwölften Lebensjahr „über extremistische Einflüsse im Internet aufklären und ihre Medienkompetenz stärken“ – und damit Rechtsextremismus vorbeugen.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Manchmal ist weniger mehr
Um das zu erreichen, werden auf der gerade erwähnten Website zum Game auch sehr eindrücklich Spiel und Wirklichkeit miteinander verglichen. Welche Bücher, Zeitschriften und Bands gibt es wirklich, was ist die identitäre Bewegung, welcher Sprache bedienen sich Neonazis, welche Organisationen gibt es und wo weiter. Das ist informativ und lesenswert.
Das Game schießt bei seinen Bemühungen, auch wirklich keinen Aspekt auszulassen, mitunter über das Ziel hinaus. Aufgrund seiner Kompaktheit gibt’s hier ein Trommelfeuer von Argumenten und Hinweisen, das ist teilweise etwas ermüdend und zu viel pädagogischer Zeigefinger; etwas mehr Unterhaltung hätte Leons Identität – auch wenn das hier ein sehr ernstes Thema ist – gut getan. Dass die das drauf haben, hat Grimme Preisträger bildundtonfabrik ja in der Vergangenheit schon des Öfteren bewiesen.
Auch kommt Leons Perspektive bei all dem etwas zu kurz. Die Gründe für sein Abdriften bleiben dünn und nebulös, das abschließende Telefonat lässt wenig Erklärungen zu, sondern ergeht sich in einem Austausch von Standpunkten. Da hätte mehr kommen müssen.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Spielerisch solide
Spielerisch ist das alles durchaus solide – nette Rätsel, ansehnliche Grafik, komplett professionell vertont, mit abwechslungsreichem Multimedia-Einsatz. Kein Wunder, dass Entwicklung und Produktion des Games 225.000 Euro gekostet haben. Aber das Geld ist gut angelegt, denn „politische Urteilsfähigkeit ist ausschlaggebend für den Bestand unserer Demokratie“ – wie Jonas am Ende konstatiert.
(Copyright: bildundtonfabrik (btf))
Fazit
Die Idee, Jugendliche auf spielerischem Weg zu erreichen, statt auf die üblichen Wege wie Broschüren, Bildungsfernsehen oder schulische Aufklärung zu setzen, ist gar nicht verkehrt. Oft bleibt das Spiel dabei aber an der Oberfläche, geht nicht tief genug und lässt wichtige Beweg- und Hintergründe außen vor. Fazit: Guter Ansatz, wichtiges Thema, spielerisch ordentlich gelöst, aber inhaltlich mit Luft nach oben.
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